Couchsurfing – mehr als nur eine günstige Übernachtungsmöglichkeit, es ist ein Türöffner zu den realen Lebenswelten in fremden Ländern. Für den Autor und Reporter Stephan Orth ist es ein Weg, tiefere Einblicke in die Kulturen und den Alltag der Menschen zu gewinnen, die jenseits der touristischen Pfade leben. Für sein aktuelles Buch „Couchsurfing in der Ukraine“ führte ihn diese Reiseform in die Ukraine, ein Land, das seit 2022 im Zentrum eines erbitterten Konflikts steht. Acht Monate lang reiste Orth quer durch das Land, von den umkämpften Frontgebieten bis zu den relativ sicheren westlichen Regionen, und tauchte ein in die vielschichtige Realität einer Nation im Ausnahmezustand.
Zwischen Überleben und Alltag
Der Krieg in der Ukraine ist allgegenwärtig, doch das Bedürfnis der Menschen nach Normalität ist ungebrochen. Stephan Orth erlebte dieses Spannungsfeld hautnah. Trotz der täglichen Raketenangriffe, der ständigen Stromausfälle und der unsicheren Zukunft versuchen die Ukrainer, ihren Alltag aufrechtzuerhalten. „Die Menschen sehnen sich nach Struktur und Normalität“, erzählt Orth. Diese Normalität ist eine lebenswichtige Strategie, um mit den psychischen Belastungen des Krieges umzugehen. Besonders in den Städten, die etwas weiter von der Front entfernt liegen, ist das Bedürfnis, dem Krieg wenigstens für einige Stunden zu entfliehen, stark ausgeprägt.
Dort, wo die Bedrohung durch Raketenangriffe immer wieder besonders hoch ist, erlebt Orth, wie seine Gastgeber während der Luftalarme in fensterlose Räume flüchten, um in Sicherheit zu sein. Doch sobald der Alarm vorüber ist, kehrt eine gewisse Normalität zurück. Die Menschen gehen wieder ihrer Arbeit nach, treffen Freunde und versuchen, den Alltag zu meistern, so gut es geht. Diese Momente der Normalität sind jedoch stets fragil, jederzeit kann die Situation kippen und das Leben der Menschen erneut in eine Krise stürzen.
Ein Land in der Zerreißprobe
Orth reiste in den acht Monaten seiner Ukraine-Aufenthalte von den westlichen Karpaten bis zu den umkämpften Gebieten im Osten des Landes. Dabei stellte er fest, dass der Krieg das Land unterschiedlich stark belastet. Während in Städten wie Lviv das alltägliche Leben relativ ungestört seinen Gang geht, ist die Lage in den Frontnähe ungleich angespannter. In Orten wie Charkiw oder Kramatorsk, wo die Frontlinie nur wenige Kilometer entfernt ist, prägen Militärpräsenz und ständige Bedrohung den Alltag. Doch auch hier findet Orth Menschen, die versuchen, sich nicht komplett vom Krieg vereinnahmen zu lassen. „Es ist ein schmaler Grat zwischen Überleben und Leben“, beschreibt Orth die Situation.
Man kann 100 Artikel lesen und 20 TV-Dokus sehen, man versteht nicht, wie so viel Alltag existieren kann und dort gleichzeitig der schrecklichste Krieg der letzten 80 Jahre in Europa tobt.
Stephan Orth
Besonders eindrucksvoll war für ihn der Aufenthalt in Charkiw, wo er mit seinen Gastgebern durch die Stadt ging und nach einer Weile die Bitte kam, einmal nicht über den Krieg zu sprechen. Doch trotz dieser Versuche der Ablenkung, kehrte das Gespräch immer wieder zurück zu den Themen des Krieges und der Zerstörung. „Man kommt wahnsinnig schwer davon weg“, sagt Orth. Die ständige Bedrohung lässt die Menschen nicht los, selbst in den vermeintlich friedlicheren Momenten.
Das Land der Widerstandsfähigen
Trotz der unvorstellbaren Belastungen, die der Krieg mit sich bringt, zeigt sich Orth beeindruckt von der Widerstandsfähigkeit der Ukrainer. Er trifft Menschen, die alles verloren haben – ihre Häuser, ihre Familien, ihre Heimat – und dennoch beschließen, im Land zu bleiben. Sie halten an dem fest, was ihnen geblieben ist: ihrem Land, ihrer Identität und ihrem Willen, den Krieg zu überleben. Orth erzählt von einem Mann, der in unmittelbarer Nähe zur Frontlinie lebt, obwohl seine Familie längst ins sichere Ausland geflohen ist. „Das ist alles, was mir geblieben ist“, sagt der Mann über sein Haus, das er trotz der Gefahr nicht verlassen will.
Orths Reise durch die Ukraine zeigt ein Land, das sich in einem ständigen Balanceakt zwischen Krieg und Alltag, Hoffnung und Verzweiflung befindet. Couchsurfing war für ihn das Mittel, um diese Realität hautnah zu erleben und die Geschichten der Menschen, die in den Schlagzeilen oft untergehen, sichtbar zu machen. Was bleibt, ist das Bild eines Landes, das trotz aller Zerstörung und allem Leid nicht aufgibt – ein Land der Widerstandsfähigen, die täglich kämpfen, um sich ein Stück Normalität und Hoffnung zu bewahren.
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Fotoquelle: Mychajlo Palintschak