Am Fuß der Alpen, inmitten majestätischer Landschaften, liegt Berchtesgaden – ein Ort von großer Schönheit, dessen Geschichte dennoch eine schwere Bürde trägt. Bereits in den 1920er Jahren zog die abgelegene Region Adolf Hitler an. Mit seinem Aufstieg zur Macht verwandelte sich der Obersalzberg in ein exklusives Refugium der NS-Elite. Minister, Vertraute und Funktionäre ließen sich in unmittelbarer Umgebung nieder, während die ursprünglichen Bewohner enteignet wurden – anfangs noch gegen Entschädigungen, später zunehmend willkürlich.
Die Frage, wie ein solcher Ort nach dem Zusammenbruch des Regimes weiterleben konnte, steht im Mittelpunkt von Carolin Ottos Roman „Berchtesgaden“. Die Schriftstellerin und Drehbuchautorin zeichnet darin ein dichtes Bild jener Jahre, in denen zwischen Schuld, Verdrängung und Neubeginn ein fragiles Gleichgewicht entstand. „Wenn man sich klargemacht hat, was im Namen aller Deutschen geschehen war, konnte das eigentlich nur in eine totale Depression führen“, sagt Otto. Doch die kollektive Verdrängung setzte ebenso rasch ein wie das Wissen um die eigene Mitverantwortung.
Vom Aufbruch der Plünderer
In den chaotischen Tagen nach dem Kriegsende waren die Spuren der Vergangenheit noch greifbar. Häuser, Villen und Lager standen offen – und mit ihnen die Tür zur Versuchung. Einheimische wie Soldaten durchsuchten die verlassenen Anwesen nach Wertgegenständen. Möbel, Uhren, Kunstwerke: Alles, was erreichbar war, wechselte die Besitzer. „Man nimmt auch Sachen mit, die man überhaupt nicht brauchen kann, nur weil sie gerade da sind“, beschreibt Otto das eigentümliche Gefühl einer Zeit ohne klare Ordnung.
Es gab kaum jemanden, der nicht auf irgendeine Weise Teil des Systems war oder davon profitierte.
Carolin Otto
Dabei war das moralische Gefüge längst zerbrochen. Viele Soldaten sahen es als gerechtfertigt an, sich zu bedienen – in Anbetracht der Gräueltaten, die Deutschland über Europa gebracht hatte. Gleichzeitig wurde sichtbar, wie tief das Dritte Reich in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eingedrungen war. Das Ideal des unbescholtenen Bürgers erwies sich oft als Illusion. Fast jeder hatte auf die eine oder andere Weise in den Strukturen des Regimes gelebt oder davon profitiert. „Wer bis 1950 durchgekommen war, musste mit nichts Schlimmem mehr rechnen“, sagt Otto.
Die Truppen der Alliierten versuchten, Ordnung zu schaffen, Wahrheit zu ermitteln und die Grundlagen für eine neue Gesellschaft zu legen. Sie entwickelten detaillierte Fragebögen, führten Verhöre, organisierten Schocktherapien wie den Zwangsbesuch von Konzentrationslagern. Doch der Wiederaufbau erforderte auch Pragmatismus: Ärzte, Juristen, Lehrer wurden gebraucht – und so fanden viele ihren Platz im neuen Deutschland, ohne je wirklich Rechenschaft abgelegt zu haben.
Was bleibt – und was droht
Heute, viele Jahrzehnte später, erscheinen die Parallelen zu gegenwärtigen Entwicklungen beunruhigend deutlich. Das Erstarken nationalistischer Strömungen, die Verrohung des öffentlichen Diskurses, das schleichende Vergessen der historischen Lehren – all das macht Carolin Otto Sorge. „Es gibt keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Wer das behauptet, ist ein Lügner“, betont sie. Demokratie sei kein Zustand, den man einmal erreicht und dann bewahren könne. Sie müsse jeden Tag neu verteidigt werden – gegen Bequemlichkeit, gegen Vereinfachung, gegen das Vergessen.