Peer Steinbrück über Macht, Misstrauen und Handlungsfähigkeit

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Peer Steinbrück

Die Demokratie lebt vom Mitmachen. Doch was, wenn sich eine Gesellschaft über Jahrzehnte in einem Wohlstand eingerichtet hat, der keinen Einsatz mehr verlangt? Wenn politische Beteiligung durch Misstrauen ersetzt und der Staat zum bloßen Dienstleister degradiert wird? Dann, so warnt Peer Steinbrück, sei die Demokratie nicht mehr selbstverständlich. Der ehemalige Bundesfinanzminister und Vize-Kanzler spricht von einem „Paradoxon“: Die Bürger empörten sich über einen „paternalistischen Staat“, erwarteten aber gleichzeitig „Rundumversorgung bis zum Liebeskummer“. Eine Mischung aus Konsumentenmentalität und politischer Trägheit habe sich etabliert – befeuert von einer Politik, die es sich selbst zu lange zu bequem gemacht habe.

Diese politische Sedierung reicht bis in die jüngste Vergangenheit. Steinbrück spricht mit Respekt über Angela Merkel, kritisiert aber ihr Regierungsverständnis: „Sie gehörte über Jahre zu denjenigen, die eigentlich die Bevölkerung sediert hat.“ Ihre Botschaft sei gewesen: Alles ist unter Kontrolle – eine Haltung, die heute teuer bezahlt werde. Denn Vertrauen in politische Führung entstehe nicht durch Beschwichtigung, sondern durch Klartext und Handlungsfähigkeit.

Vom Zaudern zur Zeitenwende

Die aktuelle Lage verlangt nach Letzterem. Ob Digitalisierung, Migration oder Verteidigung – in zentralen Fragen sei der Staat zu langsam, zu zersplittert, zu vorsichtig. Steinbrück nennt es eine „Verflechtungsfalle“. Fünf Ministerien seien allein für steuerfinanzierte Sozialleistungen zuständig, jedes mit eigenen Definitionen und Verfahren. Ähnlich absurd sei die Lage bei der digitalen Verwaltung: „Wir brauchen eine stärkere Zentralisierung, Koordinierung – mit entsprechenden Budgetmitteln, Kompetenzen, Durchgriffsrechten.“

Besonders drastisch zeigt sich die Trägheit beim Thema Sicherheit. Während Europa sich neu sortieren müsse, drohe Deutschland erneut ins Hintertreffen zu geraten. Steinbrück fordert deshalb nicht nur Investitionen, sondern ein strategisches Denken: „Dass die Zeitenwende in Deutschland noch nicht ihren Niederschlag in der Sicherheitsarchitektur unseres Landes gefunden hat – das ist hochproblematisch.“

Viele sehen den Staat als eine Art Lieferservice, nicht als gemeinsames Gemeinwesen.

Peer Steinbrück

Auch in der Migrationspolitik mangele es an Klarheit. Deutschland brauche Zuwanderung – „eindeutig, bei der demografischen Entwicklung, die wir haben.“ Dennoch dominierten weiterhin Scheindebatten über Obergrenzen und Grenzkontrollen, während die langfristigen Fragen – etwa die Folgen des Klimawandels – kaum thematisiert würden. Es sei eine „der komplexesten Herausforderungen“, gerade weil sie sich so leicht instrumentalisieren lasse. Und doch sei sie lösbar, wenn man ehrlich, pragmatisch und europäisch denke.

Europa braucht Führung – und Deutschland Verantwortung

Gerade in der europäischen Politik plädiert Steinbrück für mehr Ambition – und für eine Führungsrolle Deutschlands. „Europa ist fragmentierter, als wir uns das eingestehen“, sagt er nüchtern. Die Aufgabe sei daher nicht, alle 27 Staaten mitzunehmen, sondern mit einer „Koalition der Willigen“ konkrete Fortschritte zu erzielen – etwa bei Verteidigung, Energie, Kapitalmärkten und Digitalisierung. Voraussetzung sei, dass Berlin die eigene Rolle annimmt und aktiv gestaltet.

Zugleich warnt Steinbrück davor, sich von destruktiven Akteuren wie Donald Trump in den Bann ziehen zu lassen. „Der bestimmt unsere Debatte bereits am Morgen. Sind wir wahnsinnig geworden?“ Europa müsse sich emanzipieren, resilienter werden, strategischer handeln. Statt als Kaninchen vor der Schlange zu verharren, gelte es, den Blick zu heben – und selbst Maßstab zu sein.

Das aber gelinge nur, wenn auch die innere Erneuerung gelingt. „Wir brauchen dringend eine Verwaltungsmodernisierung“, fordert Steinbrück – mit mehr Vertrauen in die Bürger, mit Entlastung statt Kontrolle, mit einer Kultur des Mutes statt des Misstrauens. „Wir sind eine Risikokultur. Aber die öffentliche Verwaltung begegnet dem Bürger erstmal mit Misstrauen.“

Am Ende bleibt für Steinbrück trotz allem der Optimismus. „Der Problemdruck ist so groß, dass wir gezwungen sind, zu handeln.“ Und dieser Druck sei nicht nur Belastung, sondern vielleicht auch Chance.

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Daniel Fürg

Daniel Fürg ist so etwas wie der Barkeeper bei Gin And Talk. Er steht hinter dem Bartresen und führt die Gespräche mit den Gästen.

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