Lars Amend über Kindheit, Heilung und Selbstverantwortung

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Lars Amend

Von außen betrachtet war alles in Ordnung. Ein Haus mit Garten. Zwei Kinder. Ein geregeltes Leben auf dem Land. Doch wie so oft sind die Fassaden trügerisch. Innen klaffen Leerstellen, die sich kaum benennen lassen – und noch weniger füllen. Erst viel später, oft Jahrzehnte danach, beginnen Menschen zu begreifen, was ihnen gefehlt hat. Nicht Luxus, nicht Sicherheit. Sondern Nähe. Geborgenheit. Das Gefühl, gesehen zu werden – oder zumindest: das Gefühl, dass jemand bleibt.

Die Suche nach diesem Gefühl nennt man heute Selbstfindung. Doch im Kern ist es etwas viel Ursprünglicheres. Es ist der Wunsch, irgendwo anzukommen – am besten in sich selbst. Der Autor Lars Amend hat dieser Suche ein ganzes Buch gewidmet. „Coming Home“ heißt es, und es ist weniger ein Ratgeber als ein ehrliches Protokoll. Von jemandem, der lange gebraucht hat, um zu verstehen, dass Heimat kein Ort ist. Sondern ein Zustand.

„Ich hatte das Gefühl, mein Leben beginnt später. Ich bin nur auf der Durchreise.“ So beschreibt Amend seine frühen Jahre, in denen er von Stadt zu Stadt zog, ohne je irgendwo bleiben zu wollen. Er spricht nicht von äußerer Unruhe – sondern von einer inneren Rastlosigkeit, die sich über alles legt. Erst nach dem Tod seiner Mutter beginnt er zu erkennen, dass das Gefühl des Angekommenseins niemals von außen kommt. Sondern nur aus einem selbst heraus entstehen kann. „Coming Home“, sagt er, „kann nur in dir selbst sein.“

Verstehen ist nicht Verzeihen – aber ein Anfang

Dass sich viele Menschen mit ihren Eltern versöhnen, wenn es fast zu spät ist, ist kein neues Phänomen. Doch selten wird so klar benannt, woran es liegt: an der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Am Schweigen, das nie bricht. Am Unvermögen, Gefühle zu zeigen, weil man selbst nie gelernt hat, welche zu spüren.

„Meine Mutter hat bis zum Schluss nicht über ihre Gefühle gesprochen“, erzählt Amend. Selbst auf der Palliativstation habe sie sich lieber in Videokonferenzen gestürzt als in ein klärendes Gespräch mit ihrem Sohn. Und doch sei das keine Bosheit gewesen. Sondern Ohnmacht.

Heilung beginnt nicht mit Vorwürfen, sondern mit dem Versuch, zu verstehen – für sich selbst, nicht für den anderen.

Lars Amend

Denn wer nie willkommen war, kann schwer Liebe geben. Wer nie gelernt hat, dass Nähe nicht gefährlich ist, wird sie kaum zulassen. Amend rekonstruiert die Geschichte seiner Mutter mit dem Blick eines Erwachsen gewordenen Kindes – und dem Verständnis eines Mannes, der selbst Vater ist. Er entschuldigt nichts. Aber er versucht zu verstehen. Und darin liegt vielleicht die größte Form des Vergebens.

„Will ich für immer in der Opferrolle sein? Oder will ich verstehen, um heilen zu können?“ Was sich wie eine therapeutische Floskel anhört, ist in Wahrheit eine existentielle Entscheidung. Die Entscheidung, nicht mehr zu hadern. Sondern sich selbst verantwortlich zu machen – für das, was man weitergibt. Nicht jeder, der verletzt wurde, muss verletzen. Es gibt einen anderen Weg. Und es ist der schwerere.

Gegen die Erwartungen leben

Manchmal sind es nicht die großen Katastrophen, die uns aus der Bahn werfen. Sondern das unsichtbare Gewicht gesellschaftlicher Erwartungen. Die ständige Forderung nach Sicherheit, die Pflicht zur Anpassung, die Angst vor dem Scheitern. All das beginnt früh. „Mach was Anständiges“, sagen Eltern. Und meinen: Vermeide das Risiko, das ihnen selbst zu groß war.

„Wir sind in der Illusion aufgewachsen, dass finanzielle Absicherung das höchste Gut ist“, sagt Amend. Persönliche Erfüllung, mentale Gesundheit, Lebensfreude – all das kommt erst danach. Wenn überhaupt.

Doch die Welt, in der das einmal funktioniert hat, existiert nicht mehr. Die linearen Lebensläufe lösen sich auf. Der sichere Beruf ist keine Garantie mehr. Und die nachrückenden Generationen, so wirkt es, stellen sich nun lauter Fragen, die sich ihre Eltern nie gestellt haben: Wer will ich sein? Was macht mich aus? Und: Wofür lohnt es sich zu leben?

„Ich glaube, die 20er sind da, um Fehler zu machen“, sagt Amend. Nicht um alles zu wissen. Sondern um herauszufinden, was man will – und was nicht.

Ein Rat, der einfach klingt. Und doch mutig ist in einer Welt, die nach Optimierung strebt. Selbstverwirklichung ist heute kein Luxus mehr, sondern Überlebensstrategie. Denn wer sich selbst nicht spürt, geht unter im Lärm der Welt. Umso wichtiger, innezuhalten. Nicht erst, wenn alles zusammenbricht. Sondern bevor es zu spät ist.

„Wir sterben gut, wenn wir das Gefühl haben, wir haben es versucht“, sagt Amend. „Darum geht es.“

Es ist ein einfacher Satz. Und doch einer, der bleibt.

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Hosted by
Daniel Fürg

Daniel Fürg ist so etwas wie der Barkeeper bei Gin And Talk. Er steht hinter dem Bartresen und führt die Gespräche mit den Gästen.

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