Es klingt wie eine absurde Anekdote aus der Vorzeit der Medizin: Ein holländischer Tuchhändler beobachtet um 1670 unter seinem selbstgebauten Mikroskop zahllose „kleine Tierchen“ in seinem Speichel. Er nennt sie „Animacula“, kleine Lebewesen – was sie auch sind. Antoni van Leeuwenhoek hat, ohne es zu wissen, Bakterien entdeckt. Doch niemand erkennt die Tragweite. Das Weltbild – beherrscht von der Viersäftelehre – hat keinen Platz für Keime. Erst 200 Jahre später gelingt es Louis Pasteur und Robert Koch, das Unsichtbare als Ursache von Krankheit ins medizinische Denken einzuschreiben.
Was heilt, ist nicht nur eine Frage von Forschung, sondern auch von Vorstellung. Dr. Werner Bartens, Arzt, Historiker und einer der profiliertesten Medizinjournalisten des Landes, hat sich in seinem neuen Buch „Leib und Seele“ auf die Spuren solcher medizinischer Wendepunkte begeben – und zeigt: Der Fortschritt ist selten eine lineare Bewegung. „Mich fasziniert, warum sich richtige Ideen oft so schwer durchsetzen“, sagt er. „Selbst wenn sie überzeugend sind, dauert es manchmal Jahrzehnte – oder Jahrhunderte.“
Von Schröpfen, Schuld und Selbstvermessung
Die Viersäftelehre ist ein Beispiel für die Macht kultureller Ordnungssysteme. Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle bestimmten jahrhundertelang nicht nur Diagnosen, sondern auch die Typisierung von Menschen: Der Choleriker mit zu viel gelber Galle, der Melancholiker mit zu viel schwarzer. Dieses Schema fügte sich so elegant in das Weltverständnis der Zeit – mit vier Elementen, vier Jahreszeiten, vier Himmelsrichtungen –, dass es kaum hinterfragt wurde. Auch wenn das medizinisch wenig bewirkte. „Im besten Fall war es harmlos, im schlechtesten gefährlich“, sagt Bartens. Ein Aderlass zu viel konnte töten. Und das tat er auch.
Fast unheimlich wirkt es, wie sehr sich solche Denkfehler bis in die Gegenwart retten. Nur haben sich die Symptome verändert. Heute sind es Smartwatches, Tracking-Ringe und Gesundheits-Apps, die das Ideal eines kontrollierbaren Körpers versprechen. Doch auch sie folgen einer alten Sehnsucht: dem Wunsch nach Sicherheit, nach Kontrolle über ein grundsätzlich unsicheres Leben. Bartens warnt: „Der Mensch ist keine triviale Maschine.“ Was der Körper sagt, kann nicht vollständig durch Zahlen erklärt werden – und dennoch neigen viele dazu, sich diesen Zahlen zu unterwerfen.
Heute wird Krankheit oft zur Schuldfrage – als hätte jeder seine Diagnose selbst verschuldet.
Dr. Werner Bartens
Manchmal wird dabei aus der Suche nach Gesundheit ein Akt moralischer Selbstvergewisserung. Wer Alkohol trinkt, Zucker isst, sich nicht „optimal“ ernährt, wird rasch als disziplinlos gelesen – oder gar als selbst schuld an seiner Krankheit. „Das ist das neue Victim Blaming“, sagt Bartens. „Die Idee, dass Krankheit immer selbst verschuldet ist, verkennt, wie viel schlichtes Pech im Spiel ist.“ Viele Krankheiten seien eben nicht das Ergebnis eines ungesunden Lebens, sondern einer biologischen Lotterie, deren Regeln niemand ganz versteht.
Empathie ist keine Softwarefunktion
Dabei hätte man aus der Geschichte lernen können. Nicht nur aus medizinischen Irrtümern, sondern auch aus dem, was zu kurz kam: die Seele. „Es ist absurd, dass Psychosomatik heute oft noch als Spezialfach gilt“, sagt Bartens. Dabei betreffe der Zusammenhang von Psyche und Körper nahezu jede Diagnose. Schmerz, Schlafstörung, Verdauungsprobleme – häufig ohne messbaren Befund. Doch moderne Medizin hat sich an Zahlen gewöhnt. An Messbarkeit. An Geräte. „Ein Drittel aller Patienten hat Beschwerden, für die sich kein organischer Befund erheben lässt – aber sie leiden trotzdem.“
Gerade darin liegt eine zentrale Herausforderung für die Medizin der Zukunft: Sie darf nicht in der Technik steckenbleiben. Künstliche Intelligenz könne Diagnosen verbessern, aber sie könne nicht erklären, was eine Diagnose bedeutet – und was sie mit einem Menschen macht. „Manchmal merkt man durch den Blick, durch das Miteinander, ob da Verständnis ist. Dazu braucht es keinen Algorithmus, sondern einen Menschen.“
Bartens hofft, dass der Mensch in der Medizin nicht verloren geht. Dass der Arzt, die Ärztin, künftig wieder mehr Zeit hat für Gespräche – nicht nur für Werte. Dass die Medizin begreift, was Hippokrates schon wusste: dass ein guter Arzt nicht nur heilt, sondern auch tröstet.