Sascha Ehlert über Exil, Kultur und Ohnmacht

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Sascha Ehlert

Es gibt Zeiten, in denen man das Gefühl hat, die Welt entgleitet einem. Vieles passiert gleichzeitig, zu schnell, zu laut – und selbst die gutmeinenden, aufklärungswilligen Köpfe unserer Generation geraten ins Straucheln. Zwischen Krisen, Kriegen und dem dumpfen Brummen eines autoritären Rollbacks wächst ein diffuses Gefühl der Ohnmacht. Man weiß zu viel, fühlt zu wenig, reagiert hektisch – oder gar nicht. Was bleibt, ist oft der Wunsch nach Rückzug, nach einer Atempause von der Wucht der Welt.

Gerade die Menschen, die mit offenen Augen durchs Leben gehen, drohen zu erstarren – gelähmt von der Erkenntnis, dass das Wissen um die Dinge allein nicht reicht, um sie zu verändern. „Bei allem Intellekt sind Menschen dann doch emotionale Wesen“, sagt der Autor Sascha Ehlert. Und Emotionen lassen sich nicht auf Kommando abrufen, erst recht nicht unter Dauerbeschuss. Rückzug wird dann zur Überlebensstrategie – nicht aus Ignoranz, sondern aus Selbstschutz. Die Frage ist nur: Wie lange kann man sich der Realität entziehen, bevor der Rückzug selbst zur Form von Mittäterschaft wird?

Das Exil als Projektionsfläche

Exil, das zeigt Ehlerts Roman „Palo Santo“, ist nicht nur ein geografischer, sondern vor allem ein psychologischer Raum. Die Protagonisten fliehen – vor sich selbst, vor der Geschichte, vor einer Gesellschaft, die ihnen zunehmend fremd wird. In Los Angeles, diesem Sonnen-überstrahlten Außenposten des westlichen Traums, suchen sie nicht nur Sicherheit, sondern Erlösung. „Der Westcoast-Hip-Hop hatte für mich immer etwas utopisch Fernes“, erzählt Ehlert. Und doch bleibt das Exil eine Illusion: ein Ort, der mehr verspricht, als er halten kann.

Ich habe mich gefragt, warum so viele Intellektuelle das Exil in Los Angeles nicht ausgehalten haben – trotz aller Schönheit.

Sascha Ehlert

Die Parallelen zur Geschichte drängen sich auf. In den 1930er-Jahren war L.A. ein Zufluchtsort für Intellektuelle, die vor dem Nationalsozialismus flohen. Billy Wilder, einer der wenigen, die dauerhaft blieben, wird in Ehlerts Roman zur Leitfigur – nicht als Held, sondern als Suchender. „Ich habe mich gefragt, warum er geblieben ist“, sagt der Autor. „Vielleicht, weil er an die Utopie geglaubt hat.“

Was bei Wilder biografisch war, ist bei Golo, der Romanfigur, existenziell: ein innerer Kampf um Zugehörigkeit, Moral und Identität. Dass Golo körperlich leidet – an Bauchkrämpfen, an psychosomatischen Symptomen – ist kein Zufall. Es sind Symptome einer Generation, die gelernt hat, stark zu sein, und nun lernen muss, sich selbst zu fühlen.

Männlichkeit, Macht und Misstrauen

„Ich wünschte, man könnte von einer neuen Generation Mann sprechen“, sagt Ehlert. Doch die Realität sieht anders aus. Der gesellschaftliche Rechtsruck – nicht nur in Deutschland – wird vor allem von Männern getragen, die in der Verletzlichkeit anderer eine Bedrohung ihrer eigenen Rolle sehen. Die Sehnsucht nach Klarheit, nach Kontrolle, nach einfachen Antworten speist sich oft aus einer tiefen inneren Verunsicherung.

Dass sich junge Männer zunehmend konservativ orientieren, ist keine statistische Fußnote, sondern ein Alarmsignal. Der Rückzug in überkommene Rollenmuster, in toxische Vorbilder, ist keine Nostalgie – es ist ein Machtreflex. Wer von klein auf gelernt hat, dass Stärke mit Härte gleichzusetzen ist, wird Offenheit als Schwäche deuten. Und doch: Es gibt andere Erzählungen. Kunst und Kultur, so Ehlert, „können Menschen zeigen, dass sie nicht allein sind mit ihrer Art zu fühlen“.

Aber reicht das? Reicht es, wenn sich die Kultur im Feuilleton empört, während die Algorithmen längst anderen das Spielfeld überlassen? Vielleicht ist es an der Zeit, dass sich jene, die an der Öffentlichkeit teilhaben, auch öffentlich bekennen – nicht nur zur eigenen Verletzlichkeit, sondern auch zur Demokratie.

Die Romantik des Aufbruchs

„Deutschland war schon immer eine schlechte Idee“, heißt es im Roman. Ein Satz, der provoziert – und wehtut. Weil er den Zweifel ausspricht, den viele spüren, aber nicht zu sagen wagen. Was bedeutet es, Verantwortung für ein Land zu übernehmen, dessen Geschichte so schwer auf der Gegenwart liegt? Was heißt es, zu bleiben, wenn man eigentlich gehen will?

„Wenn es passieren sollte, dass in Deutschland eine rechtsextreme Regierung gebildet wird, bin ich lieber früher als später weg“, sagt Ehlert. Und man kann ihm diesen Satz nicht übelnehmen. Zu präsent ist das Wissen um das, was geschieht, wenn man zu lange wartet. Zu dünn ist das Eis zwischen Warnung und Weckruf. Und doch wäre es ein fatales Signal, wenn ausgerechnet die reflektierten Stimmen verstummen – und sich die lauten, radikalen das Feld nehmen.

Vielleicht braucht es keine neuen Helden, sondern neue Allianzen. Keine neuen Parolen, sondern neue Gemeinschaft. Vielleicht ist die wichtigste Aufgabe der Kultur heute nicht mehr das Kommentieren, sondern das Verbinden. Menschen, Ideen, Widersprüche.

Der Roman „Palo Santo“ von Sascha Ehlert ist ein literarischer Versuch, dieser Wirklichkeit zu begegnen – mit Mitgefühl, Widerspruch und Hoffnung.

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Fotoquelle: Zeynep Bozbay

Hosted by
Daniel Fürg

Daniel Fürg ist so etwas wie der Barkeeper bei Gin And Talk. Er steht hinter dem Bartresen und führt die Gespräche mit den Gästen.

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