Es beginnt oft mit einem diffusen Gefühl: Etwas stimmt nicht. Es ist kein lauter Schmerz, kein sichtbares Trauma, eher ein Rauschen im Hintergrund – eine Unruhe, die sich nicht erklären lässt. In den Erzählungen jener, die in Kriegs- und Nachkriegszeiten aufwuchsen, schimmert dieses Rauschen durch. Viele haben es nie laut ausgesprochen. Doch es hat sich übertragen. Auf die Kinder. Und auf deren Kinder.
Die Journalistin, Autorin und Moderatorin Caro Matzko beschreibt das, was sie „Alte Wut“ nennt, in ihrem gleichnamigen Buch als Erbe einer Generation, die mit Verlust, Entwurzelung und dem Schweigen lebte. Ihr Vater wurde in Ostpreußen geboren, verlor als Kind alles: Heimat, Besitz, Sprache, Status. Die Folge war eine tief eingegrabene Ressentimentstruktur, die Jahrzehnte später in politischen Haltungen Ausdruck fand, für die in der gesellschaftlichen Mitte lange kein Platz war – bis eine Partei wie die AfD genau dieses Vakuum zu füllen begann.
„Ich glaube, dass man sich sehr gut in der Opferrolle einleben kann“, sagt Matzko. „Dann sind ja immer die anderen schuld.“ Diese Erzählung sei bequem – und gefährlich. Denn wer sich selbst als machtlos erlebt, wird anfällig für Narrative, die einfache Feindbilder anbieten. Die Wut wird kultiviert. Und mit ihr wächst das Bedürfnis nach Autorität, Kontrolle, Rückkehr.
Was nicht erzählt wird, bleibt bestehen
Die Erinnerungen, über die in vielen Familien nie gesprochen wurde, wirken weiter. Der Großvater in Gefangenschaft, die Mutter mit zertrümmerten Träumen, die Familie im wortlosen Überlebensmodus. Viele in der nachkommenden Generation haben nur dieses abstrakte Geschichtsbuchwissen. „Aber so richtig reden? Wollte da kaum jemand.“, sagt Matzko. Wo keine Worte sind, fehlt der Zugang. Und was sich nicht sagen lässt, wird zu einer Art innerer Dunkelkammer, in der sich Wut, Angst und Überforderung mischen.
Besonders stark zeigt sich das im deutsch-deutschen Verhältnis. Matzko sieht in der westdeutschen Arroganz nach der Wiedervereinigung eine der zentralen Kränkungen: „Wir haben ihnen einfach das System übergestülpt.“ Wer plötzlich nichts mehr wert ist – weder beruflich, noch kulturell, noch biografisch –, den überrascht es irgendwann nicht mehr, dass er von der Demokratie nichts mehr erwartet. Die politische Entfremdung folgt der persönlichen. Und in diese Lücke dringt das Angebot autoritärer Bewegungen.
„Da war man wer – und plötzlich ist alles weg“, sei ein typischer Satz, den sie bei Lesungen immer wieder höre. Es ist ein Satz, der weit über Ostdeutschland hinausreicht. Er beschreibt ein Gefühl, das sich nicht rationalisieren lässt. Ein Gefühl, das sich aber aufladen lässt – mit Wut.
Die Angst hinter der Wut
Es ist kein Zufall, dass psychische Belastungen wie Essstörungen, Depressionen oder Burnout in den Erzählungen Matzkos eine zentrale Rolle spielen. Ihre eigene Geschichte ist davon geprägt – jahrelange Therapien, das Gefühl, nicht mit sich selbst leben zu können. „Mein Leben war wirklich grauenvoll mit mir selber“, sagt sie. „Und jetzt lebe ich echt gern mit mir zusammen.“ Der Weg dahin: mühsam, lang, voller Brüche – aber möglich.
Ich war mein eigener größter Feind – und ich konnte mich nicht loswerden. Das ist eine verdammt anstrengende Konstellation.
Caro Matzko
Die zentrale Erkenntnis: Wut ist oft nur die Oberfläche. Darunter liegt die Angst. Angst, abgehängt zu werden. Angst, dass es den eigenen Kindern schlechter geht als einem selbst. Angst, die Kontrolle zu verlieren in einer Welt, die sich schneller verändert, als viele mithalten können. Und Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit in einem System, das Daueroptimierung als Ideal verkauft.
„Freiheit ist total nervig“, sagt Matzko. „Du hast halt Verantwortung und musst schauen, dass der Laden läuft.“ Das mag flapsig klingen, trifft aber einen Kern. Denn viele flüchten in Systeme, die ihnen diese Verantwortung wieder abnehmen. Der Preis: die Demokratie.
Hinfahren, zuhören, weinen
Vielleicht ist der wichtigste Satz in all dem: „Wenn ihr das Gefühl habt, etwas tun zu müssen – dann macht es.“ Gemeint ist damit nicht der große Aufschrei. Sondern das Kleine, das Konkrete: die Reise an einen Ort, der für die Eltern oder Großeltern Bedeutung hatte. Das Gespräch, das man sich lange nicht getraut hat. Die Konfrontation mit dem eigenen Unbehagen.
„Ich glaube, ich bin irgendwie sein Kanal“, sagt Caro Matzko über ihren Vater. „Ich musste da hingehen und weinen.“ Was ihr Vater nicht konnte – sie hat es getan. Und so etwas wie inneren Frieden gefunden.



