Marieke Reimann über Ostdeutschland, Anerkennung und Macht

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Marieke Reimann

Die deutsche Wiedervereinigung liegt 35 Jahre zurück. Ein Grund zum Feiern – oder doch eher zur kritischen Bestandsaufnahme? Wer genauer hinsieht, erkennt: Die Angleichung zwischen Ost und West ist auch drei Jahrzehnte nach dem historischen Ereignis nicht vollzogen. Im Gegenteil. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung fühlt sich bis heute ökonomisch, kulturell und politisch abgehängt. Und das nicht nur gefühlt – sondern nachweislich.

Der verpasste Neustart

„Wir hätten die Chance gehabt, ein neues, gemeinsames Deutschland zu gründen“, sagt die Journalistin Marieke Reimann. Stattdessen sei die DDR der Bundesrepublik beigetreten – ein juristischer und symbolischer Akt, der die Machtverhältnisse auf Jahrzehnte festschrieb. Der Westen blieb Norm, der Osten wurde Defizit. Es war, so Reimann, eine „biografische Entwertung“ vieler Lebensläufe: „Die Netzwerke brachen weg, das Vermögen – sofern vorhanden – verlor seinen Wert. Und die Arbeit, die Menschen ihr Leben lang geleistet hatten, galt plötzlich nichts mehr.“

Was folgte, war kein Zusammenwachsen auf Augenhöhe, sondern das Überstülpen westdeutscher Strukturen. Wer in Ostdeutschland aufwuchs, erlebte eine Transformation, die häufig mit sozialem Abstieg, Unsicherheit und einem neuen Gefühl von Machtlosigkeit verbunden war. Heute zeigt sich das in Zahlen: Ostdeutsche verdienen im Schnitt 824 Euro weniger pro Monat als Westdeutsche, sie haben ein halb so hohes Haushaltsvermögen, arbeiten öfter im Niedriglohnsektor und sind deutlich häufiger von Altersarmut bedroht. „Nur zwei Prozent der Erbschaftssteuer in Deutschland werden in den neuen Bundesländern abgerufen“, sagt Reimann. „Das heißt: Als Ostdeutscher erbst du eigentlich nichts.“

Repräsentation, die nicht stattfindet

Hinzu kommt ein strukturelles Ungleichgewicht in der Repräsentation. Obwohl rund ein Viertel der Bevölkerung eine ostdeutsche Biografie hat, finden sich Ostdeutsche kaum in Führungspositionen wieder. In den Geschäftsleitungen überregionaler Medien fast gar nicht. In den 40 DAX-Konzernen gibt es kein einziges Unternehmen mit ostdeutscher Herkunft, von 258 Vorständen hat nur eine Frau ostdeutsche Wurzeln. Selbst ostdeutsche Regionalmedien werden fast ausschließlich von westdeutschen Verlagen betrieben. „Wie kann das sein?“, fragt Reimann. „Nach 35 Jahren gibt es keine ostdeutsche DAX-Zentrale, keine flächendeckende Teilhabe an medialer oder wirtschaftlicher Macht. Wer sich nicht abgebildet fühlt, verliert Vertrauen – und zieht sich zurück.“

Ich wollte immer in überregionalen Medien arbeiten – und dafür musste ich in den Westen.

Marieke Reimann

Das erklärt auch, warum rechtsextreme Parteien wie die AfD im Osten teils erschreckend hohe Wahlergebnisse erzielen – wenngleich Reimann betont, dass Rechtsextremismus ein gesamtdeutsches Problem ist. Die Ursachen lägen auch in westdeutschen Bundesländern, besonders in ländlichen, strukturschwachen Regionen. Doch die fehlende Ansprache durch demokratische Parteien im Osten, das pauschale Stigma und die mediale Stereotypisierung von Ostdeutschen als „abgehängt“ oder „rechts“ verschärften die Lage. „Viele Menschen haben keine Lust mehr, Medien zu konsumieren, in denen sie sich nicht wiederfinden“, so Reimann. „Und sie erleben Parteien, die ihre Themen nicht ernst nehmen.“

Was jetzt geschehen müsste

Was es bräuchte? Eine echte Ansprache auf Augenhöhe. Eine Politik, die ostdeutsche Biografien nicht nur als Quotenmerkmal betrachtet, sondern als Kompetenz anerkennt. Eine Erinnerungskultur, die nicht nur die Diktatur, sondern auch das Alltagsleben in der DDR würdigt – mitsamt Musik, Architektur, Erziehung und Lebenswelt. Und eine gezielte Förderung ostdeutscher Talente in Journalismus, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Reimann fordert Role Models, Stipendienprogramme, mehr demokratische Bildungsprojekte – gerade in Regionen, in denen rechtsextreme Strukturen zunehmend als soziale Anker funktionieren. „Wir müssen die Zivilgesellschaft stärken – und zwar nicht nur in Berlin, sondern in Bad Doberan, Cottbus oder Görlitz“, sagt sie.

Denn wer Demokratie will, muss sie sichtbar und erlebbar machen – in der Fläche, im Alltag, mit klarer Haltung. „Rechtsextreme sind keine Spinner“, sagt Reimann. „Es sind organisierte Communities mit Präsenz, während demokratische Kräfte sich zu oft zurückziehen.“

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Daniel Fürg

Daniel Fürg ist so etwas wie der Barkeeper bei Gin And Talk. Er steht hinter dem Bartresen und führt die Gespräche mit den Gästen.

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