Es beginnt oft unauffällig. Man sagt „Ja“, obwohl man eigentlich „Nein“ meint. Man nickt, obwohl man widersprechen möchte. Man stellt die eigenen Bedürfnisse hinten an, um Erwartungen zu erfüllen, die vielleicht nie laut ausgesprochen, aber tief verinnerlicht sind. Und irgendwann, meist viel später, steht man an einem Punkt, an dem man sich selbst kaum noch erkennt. „Man denkt, das ist der Charakter – dabei ist es Prägung“, sagt Melanie Pignitter. Es ist ein Satz, der hängen bleibt, weil er ein weit verbreitetes Missverständnis auflöst: Dass man nun einmal so sei, anpassungsfähig, harmoniebedürftig, fleißig – auch wenn es auf Kosten der eigenen Zufriedenheit geht.
Pignitter spricht über die Notwendigkeit, sich selbst wiederzufinden. Nicht durch plötzliche Lebensbrüche, sondern durch achtsame Rückverbindungen mit dem innersten Kern. Was sie „ein Wiedersehen mit sich selbst“ nennt, beginnt mit dem Innehalten. Mit dem Erkennen der vielen Schichten, die sich über die eigene Identität gelegt haben: elterliche Erwartungen, gesellschaftliche Rollenbilder, beruflicher Leistungsdruck, Beziehungsdynamiken. „Wenn du dich ständig übergehst, aber es nicht einmal merkst, dann kannst du auch keine Grenzen setzen“, sagt sie. Der erste Schritt sei daher immer das Bewusstwerden: Wo funktioniere ich nur noch? Und wo bin ich wirklich ich?
Leistungsdrang als Kindheitskompensation
Viele Menschen, sagt Pignitter, tragen einen tiefen Drang in sich, es „allen recht zu machen“. Oft sei das kein Ausdruck von Güte oder Großzügigkeit, sondern ein Notprogramm aus der Kindheit. Die Suche nach Anerkennung – weil Lob und Zuneigung einst an Bedingungen geknüpft waren. „Wir laufen einer Anerkennung hinterher, die wir als Kinder nie bekommen haben“, erklärt sie. Wer nur dann gesehen wurde, wenn er oder sie Leistung erbrachte, entwickelt ein unstillbares Bedürfnis, sich zu beweisen. Im schlimmsten Fall führt das zum Burnout, aber schon weit davor raubt es vielen die Kraft für echte Selbstfürsorge.
Die Schwierigkeit liegt dabei nicht nur im Erkennen der Muster, sondern in der emotionalen Entkopplung. Denn das alte Programm ist stark. Es flüstert: Wenn du nicht leistest, bist du nicht liebenswert. Wenn du Nein sagst, wirst du verlassen. „Das sind keine Gedanken – das sind Prägungen, die so tief sitzen, dass sie sich existenziell anfühlen“, so Pignitter. Und doch sei Veränderung möglich. Nicht durch große Gesten, sondern durch kleine Erfahrungen. Ein erstes Nein. Eine selbst gesetzte Grenze. Eine Begegnung, die bestehen bleibt, obwohl man sich gezeigt hat – verletzlich und echt.
Zwischenmenschliche Tiefe statt Fassade
In Zeiten ständiger Selbstinszenierung ist Echtheit zu einer Art Rebellion geworden. Pignitter beobachtet, dass sich viele Menschen in Freundschaften oder sozialen Beziehungen verstellen, auf der Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit – und dabei echte Nähe verlieren. „Wenn ich mich nackt zeige, dann macht das auch mein Gegenüber – und nur dann entsteht Verbindung.“ Der Satz klingt einfach, aber er berührt ein Grundproblem moderner Kommunikation: Die Angst, unperfekt zu wirken, lähmt das Gespräch. Und so sprechen viele über ihre Urlaube, ihre Erfolge, ihre glänzenden Fassaden – aber kaum jemand über Einsamkeit, Zweifel, Verletzungen. „Dabei wäre genau das heilsam“, sagt sie.
Die allermeisten Menschen erzählen sich täglich die Lüge: Bei den anderen läuft alles besser.
Melanie Pignitter
Tatsächlich sei die Frage „Wie geht’s?“ oft eine leere Floskel. Kaum jemand wolle die echte Antwort hören. Und doch ist es genau diese echte Antwort, die ein Gespräch transformieren kann. Wer sich traut, sich zu zeigen, öffnet Räume, in denen Vertrauen wächst – und Selbstakzeptanz möglich wird. Denn im Spiegel eines verständnisvollen Gegenübers beginnt oft das, was Pignitter als innere Heilung beschreibt: „Dass ich die Dinge nicht mehr mit alten Wunden bewerte, sondern mit meinem heutigen Selbstwert.“
Eine Reise – zwischen Pizza und Aperol
In ihrem aktuellen Buch „Wiedersehen mit mir selbst zwischen Pizza und Aperol“ erzählt Melanie Pignitter von einer Frau, die all das tut, wozu viele sich nicht durchringen: innehalten, losfahren, sich selbst begegnen. Die Protagonistin Eva verliert Job und Beziehung – und begibt sich mit einem alten VW-Bus namens Bertha auf einen Roadtrip durch Italien. Eine äußere Reise, die zugleich zur inneren wird. Bertha wird zum Symbol jener Intuition, die nur hörbar wird, wenn das Getöse der Erwartungen verstummt. Es ist ein kunstvoll erzähltes, aber auch tiefgründiges Buch, das zwischen Roman und Selbsthilfe balanciert – und genau deshalb so viele Leserinnen und Leser erreicht.
Die Themen sind universell: der Wunsch nach Zugehörigkeit, die Angst vor Ablehnung, das Streben nach einem Leben, das sich wirklich nach einem selbst anfühlt. Und vielleicht ist das Wiedersehen mit sich selbst tatsächlich am ehesten möglich, wenn man – wie Eva – einmal die Handbremse zieht, aussteigt, still wird. „Jede*r braucht diese Momente“, sagt Melanie Pignitter im Gespräch. „Momente, in denen du all das, was du meinst sein zu müssen, loslässt – und dich fragst: Wer bin ich eigentlich, wenn ich niemandem gefallen muss?“
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Fotoquelle: Joanna Jakubik