Kinder psychisch erkrankter Eltern wachsen oft im Schatten einer Krankheit auf, die nicht ihre eigene ist. Sie lernen früh, Rücksicht zu nehmen, zu funktionieren, zu schweigen. Nicht selten werden sie zu kleinen Erwachsenen, lange bevor sie selbst verstanden haben, was Kindsein bedeutet. Das Trauma, das aus dieser permanenten Überforderung entsteht, wirkt meist jahrzehntelang nach – still, diffus, schwer greifbar.
Franziska Hohmann hat beschlossen, es nicht bei diesem Schweigen zu belassen. Ihr Buch „Gut, dass du nicht mehr da bist“ ist ein Statement, das nicht nur durch seinen Titel provoziert, sondern durch seine Offenheit und emotionale Wucht bewegt. Hohmann erzählt von einer Kindheit an der Seite einer schwer depressiven Mutter, von Co-Abhängigkeit, Suchterkrankung, Entgiftung und letztlich von der Kraft, sich ein eigenes Leben zurückzuerobern. „Ich konnte mich nie lösen. Es gibt ja viele, die den Kontakt abbrechen. Ich habe es nie geschafft. Deshalb ist es jetzt gut, dass sie nicht mehr da ist.“
Die Rolle, die nie ein Kind spielen sollte
Wer mit psychisch erkrankten Eltern aufwächst, kennt das Gefühl permanenter Unzuverlässigkeit. Gute Tage wechseln sich ab mit Wortlosigkeit, mit manischen Ausbrüchen oder wochenlanger Dunkelheit. Die Krankheit ist immer mit im Raum, immer anwesend. „Meine Mutter, ihre Krankheit und ich – das war unsere Dreiecksbeziehung“, sagt Hohmann. Was sie beschreibt, ist ein Alltag zwischen emotionaler Bindung und existenzieller Erschöpfung.
Ich wollte einfach, dass mal jemand sagt: Deine Mama ist krank – die meint das nicht so.
Franziska Hohmann
Kindern in solchen Konstellationen wird selten geholfen. Noch immer fehlt es in Deutschland an niederschwelligen Hilfsangeboten für Angehörige psychisch erkrankter Menschen. Selbsthilfegruppen für depressive Menschen gibt es – für deren Kinder kaum. In vielen Kliniken fehlen Anlaufstellen für die Familien. „Ich war verloren“, sagt Hohmann. „Ich habe versucht, über die Ärzte meiner Mutter Hilfe zu bekommen. Aber man sagte mir nur: Sie sind eine resiliente Person. Sie schaffen das schon.“
Diese vermeintliche Resilienz wurde zum Selbstverständnis, zur Pflicht. Hohmann funktionierte – für die Mutter, für den Job, für alle anderen. Und irgendwann auch für die Flasche. Alkohol wurde zur Strategie, um durchzuhalten, zu verdrängen, weiterzumachen. „Ich habe den Alkohol wie Medizin benutzt“, sagt sie. „Sonst hätte ich es nicht geschafft.“
Aus der Taubheit zurück ins Leben
Die Entscheidung, offen über ihre Sucht zu sprechen, fiel Hohmann nicht leicht. „Ich bin staatlich geprüfte Alkoholikerin, jetzt trocken zum Glück.“ Bis dahin war es ein weiter Weg – mit Entzugsstationen, Intensivstation, Entwöhnung. Sie überlebte einen beinahe tödlichen Rückfall, fand Halt bei Freundinnen, die Flaschen wegräumten und sie in Kliniken fuhren. Heute sind sie noch immer an ihrer Seite. „Das ist das größte Geschenk meines Lebens.“
Franziska Hohmann will sichtbar machen, was lange im Verborgenen blieb. Nicht aus Rache oder Abrechnung, sondern aus Verantwortung. Für sich. Für andere. Für das kleine Mädchen, das sie einst war. „Ich hätte mir gewünscht, dass jemand damals sagt: Deine Mama ist krank. Sie meint das nicht.“
Dass sie heute darüber spricht, öffnet anderen den Raum, es ebenfalls zu tun. Immer wieder begegnet sie Menschen, die sagen: „Ich erkenne mich in deiner Geschichte wieder.“
Zwischen Mut und Müdigkeit
Wer mit ihr spricht, spürt die Ambivalenz: den Stolz auf das Geschaffte, die Kraft, über das eigene Leid hinweg anderen Hoffnung zu machen. Aber auch die Müdigkeit. Denn das Erzählen ist anstrengend. „Ich werde ein Stück freier mit jedem Mal. Aber es kostet Energie.“ Dass sie trotzdem weitermacht, hat mit Haltung zu tun. Und mit der Gewissheit, dass es nicht nur um sie geht.
In der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte zeigt Hohmann, was Selbstverantwortung bedeuten kann. Sie nimmt nicht nur ihr eigenes Leben in die Hand, sondern will auch anderen helfen, es ihr gleichzutun. Gerade macht sie eine Ausbildung zur Resilienztrainerin. Vielleicht wird aus ihrem persönlichen Trauma so ein Impuls, der andere dazu bringt, früher hinzusehen, früher zu sprechen, früher Hilfe zu suchen.
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